«Schola» bedeutet eigentlich freie Zeit
Interview mit Beat Jung, Latein- und Deutschlehrer an der KSSO
Wo sind Sie aufgewachsen?
Ich bin in Ramsen, einem kleinen Dorf im Kanton Schaffhausen aufgewachsen. Das war ein Dorf mit 1200 Einwohnern.
Wollten Sie schon immer Lehrer werden?
Nicht unbedingt. Mich haben alte Sprachen interessiert. Es waren meine Lieblingsfächer an der Kantonsschule Schaffhausen, dort habe ich Latein und Altgriechisch als Fächer gehabt. Ich wollte dann einfach nach der Matura noch mehr wissen über die Welt der Griechen und der Römer und das mit dem Lehrberuf hat sich dann später einfach so ergeben.
Was haben Sie studiert?
Ich habe in Tübingen (Deutschland) und in Zürich alte Sprachen und Germanistik studiert.
Seit wann sind Sie an der Kantonschule?
Ich habe im Jahr 1990 angefangen zu unterrichten, also jetzt kannst du rechnen: 35 Jahre. Aber im Jahr 1997/98 war ich nicht hier, sondern in Buenos Aires in Argentinien. Ich habe dort gelebt und Spanisch gelernt. Ich habe vor allem in meinen ersten Jahren hier an der Kantonsschule ein sehr kleines Pensum gehabt und als 2. berufliches Standbein noch als Journalist bei einer Wochenzeitung gearbeitet und auch in dieser Zeit noch Bücher zur Fussballgeschichte geschrieben.
Warum haben Sie sich für die Kanti entschieden?
Ich bin ja nicht aus Solothurn, 1988 konnte hier aber eine Stellvertretung für 3 Wochen übernehmen. Das hat mir dann sehr gut gefallen. Der damalige Rektor hat mich danach gefragt, ob ich ein kleines Pensum hier an der Kanti übernehmen würde. Da war ich noch Student und habe in Zürich studiert und das hat dann für mich sehr gut gepasst, weil ich in Zürich eine neue Wohnung gesucht habe. Aufgrund der Wohnungsknappheit war das aber sehr schwierig. Dann habe ich mir überlegt, dass ich ja eigentlich nach Solothurn ziehen könnte. Solothurn kannte ich vorher nicht und ich habe den Ort aber von Anfang an als sehr freundliches und nettes Städtchen empfunden.
Was hat Sie dazu gebracht, alte Sprachen zu unterrichten?
Ich wollte immer etwas studieren, was nicht Mainstream ist, also etwas, was wenige Leute machen. Und ich habe während meiner Gymnasialzeit an der Kantonschule Schaffhausen gemerkt, dass es bei den alten Griechen und Römern ganz viele schlaue Köpfe gab. Philosophen, die darüber nachgedacht haben, was eigentlich der Mensch für ein Wesen ist. Das kann man in den Texten dieser Philosophen und Dichter nachlesen und ich wollte einfach diese alten Weisheiten kennenlernen, weil sie eigentlich nach wie vor aktuell sind. Der Mensch ist oft ein liebenswürdiges Wesen – der Mensch ist aber auch oft ein Gewalttäter und hat Sehnsüchte und so weiter… Über diese grossen Fragen haben die alten Denker tolle Gedanken entwickelt und damit wollte ich mich auseinandersetzen.
Wenn Sie etwas an der Kanti verändern würden, was wäre das?
Was mich eigentlich am meisten stört, ist Folgendes: Die Schülerinnen und Schüler erleben diese Schule als Arbeit. Sie kommen hierher und spulen ihren Stundenplan ab, 5 Tage in der Woche, dann haben sie 2 Tage frei und am Montag geht das Gleiche wieder von vorne los. Als Altsprachler weiss ich, dass das Wort Schule von lateinisch «schola» kommt. Dieses wiederum kommt vom griechischen Wort σχολή (schole) und das heisst eigentlich freie Zeit. Die Zeit also, die ich habe, wenn ich schon dafür gearbeitet habe, dass ich genug zu essen und zu trinken habe. Ich stelle fest, dass Schule sich heutzutage ins Gegenteil entwickelt hat. Schule ist zur Arbeit geworden, zu etwas, was man nicht unbedingt immer gerne absolviert. Die Schule hat sich der Arbeitswelt angepasst. Man arbeitet fünf Tage, man geht fünf Tage in die Schule, dann sind wieder zwei Tage frei. Das ist, finde ich, eine Perversion des Begriffs Schule. Freizeit bedeutet, dass ich etwas Sinnvolles mache, dass ich Bücher lese, dass ich mit anderen Leuten, mit Freundinnen, mit Kollegen über spannende Lebensfragen diskutiere. Auch rein gar nichts machen, sich an der Leere inspirieren, ist sinnvoll. Ich habe aber das Gefühl, heutzutage kommen die Schüler:innen hierher, sitzen da und die Lehrpersonen schütten etwas in ihre Köpfe hinein oder erteilen Aufträge, dann gehen sie wieder heim. Die Schule müsste zu einem Ort werden, den ich sieben Tage in der Woche gerne aufsuche, und das an 365 Tagen im Jahr. Ich empfinde die Schule viel zu wenig als lebendigen Ort. Leben und lebendig sein heisst unter anderem neugierig sein. Immer und zu jeder Zeit.
Warum werfen Sie am Anfang von jeder Lektion den Tennisball?
Den Tennisball fangen und mir wieder zurückspielen, ist wie eine erste Kontaktaufnahme mit den Schülerinnen und Schülern und das bedeutet auch, dass alle sich fokussieren. Die Klasse, und das geht mir genauso, kommt aus einer anderen Lektion und dann möchte ich sie mit dem Ballspiel zunächst in den Lateinunterricht hineinholen. Das Ganze hat auch einen persönlichen Hintergrund. Ich habe früher sehr gerne Fussball gespielt, das ist jetzt nicht mehr möglich, weil ich kaputte Knie habe. Aber ich spiele nach wie vor gern mit dem Ball, das ist so etwas Simples und ich habe das Gefühl alle machen es gern.
Warum lohnt es sich für ihre Schüler:innen heute noch alte Sprachen zu lernen?
Aus dem Lateinischen haben sich die romanischen Sprachen entwickelt. Mir geht es darum, den Jugendlichen zu zeigen, dass gewisse Sprachen miteinander verwandt sind. Das heisst beispielsweise, dass man aus dem Lateinischen italienische oder spanische Wörter ableiten kann. Das ist der linguistische Grund.
Der andere Grund ist, dass beispielsweise die Mythen der Griechen und Römer meiner Meinung nach zur Allgemeinbildung gehören. Wenn man ein bisschen eine Ahnung hat von der antiken Götterwelt, bemerkt man plötzlich, dass das ganz andere Götter sind als beispielsweise die Gottesvorstellung im Christentum, im Islam oder in anderen Weltreligionen. Und ich finde es spannend, sich damit auseinanderzusetzen.
Welcher lateinische Satz gefällt Ihnen besonders und warum?
„Errare humanum est.“: Irren ist menschlich. Aus dem Grund, weil der Mensch ein fehleranfälliges Wesen ist. Wir alle sind nie und nimmer perfekt, wir sind keine Computer, die zu jeder Tageszeit alles rechnen können. Wir sind auch mal müde, aber ich finde, der Mensch ist ein phantastisches Wesen, obwohl er sehr fehleranfällig ist Wenn Schülerinnen und Schüler Fehler machen, finde ich, dann sollen wir als Lehrpersonen nachsichtig sein. Das Tolle an der Schule sind die Jugendlichen, sie sollen und dürfen Fehler machen; das gehört zum Menschsein.